BGH hält Prämienerhöhungen von privaten Krankenversicherungen nur bedingt für unwirksam

Prämienerhöhungen aufgrund von § 8b MB/KK 2009 bleiben zwar grundsätzlich wirksam; Privatversicherte können aber künftig verlangen, dass der Versicherer nachweist, dass die Veränderung der Kalkulationsgrundlage nicht nur vorübergehender Natur ist.

Karlsruhe, den 22.06.2022 – Der für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass Prämienerhöhungen einer privaten Krankenversicherung nach § 8b Abs. 1 MB/KK 2009 (Musterbedingungen 2009 des Verbandes der privaten Krankenversicherungen) in Verbindung mit den Tarifbedingungen zu § 8b Abs. 1 MB/KK 2009 wirksam sind. Nach diesen Vorschriften ist eine Erhöhung möglich, wenn ein Vergleich der erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen eine Abweichung von 5 % über dem tariflich festgelegten Prozentsatz ergeben hat, während § 203 VV einen Schwellenwert von 10 % verlangt. Nach § 155 Abs. 3 Satz 2 VVG ist es den Versicherern erlaubt, auch einen niedrigeren als den in § 203 VVG festgelegten Schwellenwert festzusetzen, solange die Veränderung der Kalkulationsgrundlagen der Versicherungen wie

– gestiegene Gesundheitskosten,

– gestiegene individuelle Inanspruchnahme

und

-gestiegenes Lebensalter

nicht nur vorübergehender Natur sind. Davon hatte der private Krankenversicherer Gebrauch gemacht. Über die Zulässigkeit der Abweichung von der gesetzlichen Norm (5 % Schwellenwert statt 10 %) äußern sich weder § 155 VVG noch der BGH.

Das Landgericht Köln hatte die Klage eines Versicherten gegen diverse Prämienerhöhungen abgewiesen, das Oberlandesgericht Köln hatte der Klage aber zum Teil stattgegeben und die beklagte Privatversicherung zumindest teilweise zur Rückzahlung von Prämienanteilen verurteilt. Es hatte zum einen bemängelt, dass mehrere Prämienerhöhungen bereits wegen einer unzureichenden Begründung in den Mitteilungsschreiben nicht wirksam geworden seien (dies kann aber nachgeholt werden); weitere Prämienanpassungen hat es dagegen für endgültig unwirksam gehalten, weil die Beitragsanpassungsklausel des § 8b Abs. 1 und 2 der MB/KK insgesamt unwirksam sei.

Der BGH hat dies nicht bestätigt. Unwirksam sei nur der Abs. 2 dieser Klausel, weil er eine Prämienerhöhung auch bei einem nur vorübergehenden Anstieg de Kalkulationsgrundlagen ermöglicht, und weil er sie vor allem ins Belieben der Versicherung stelle („kann davon absehen“), wogegen Erhöhungen aufgrund eines nur vorübergehenden Anstiegs der Kalkulationsgrundlagen nach § 203 VVG gesetzlich ausgeschlossen seien. Von dieser Unwirksamkeit werde aber Abs. 1 der Klausel nicht erfasst. Dieser Absatz erlaube Prämienerhöhungen im Allgemeinen, sei deshalb aus sich heraus verständlich und könne auch ohne die Anordnungen des Abs. 2 selbständig bestehen bleiben. Demnach besteht nach den allgemeinen Grundsätzen der AGB-Klauselkontrolle kein Grund, die Unwirksamkeit eines Teils der Klausel auf die gesamte Klausel des § 8b MB/KK auszudehnen. Die Prämienerhöhungen waren demnach materiell gerechtfertigt, so der BGH.

Da das Oberlandesgericht zu den formellen Voraussetzungen der Prämienerhöhungen noch keine Feststellungen getroffen hatte, wurde das Urteil aufgehoben. Der Rechtstreit wurde zur weiteren Aufklärung an das OLG Köln zurückverwiesen, welches jetzt noch prüfen muss, ob die formellen Voraussetzungen für die Prämienerhöhungen erfüllt waren.

Privat Versicherte können künftig also verlangen, dass die private Versicherung nachweist, dass die Änderungen der Kalkulationsgrundlage nicht nur vorübergehender Natur sind, denn der Umstand der Nachhaltigkeit („bei einer nicht nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung“) ist nach § 203 VVG Tatbestandsvoraussetzung für die Erhöhung.

https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/2022095.html?nn=10690868

Vorinstanzen:

OLG Köln – Urteil vom 22. September 2020 – 9 U 237/19

LG Köln – Urteil vom 18. September 2019 – 23 O 392/18

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 203 VVG

(2) Ist bei einer Krankenversicherung das ordentliche Kündigungsrecht des Versicherers gesetzlich oder vertraglich ausgeschlossen, ist der Versicherer bei einer nicht nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung einer für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlage berechtigt, die Prämie entsprechend den berichtigten Rechnungsgrundlagen auch für bestehende Versicherungsverhältnisse neu festzusetzen, sofern ein unabhängiger Treuhänder die technischen Berechnungsgrundlagen überprüft und der Prämienanpassung zugestimmt hat. … Für die Änderung der Prämien, Prämienzuschläge und Selbstbehalte sowie ihre Überprüfung und Zustimmung durch den Treuhänder gilt § 155 in Verbindung mit einer auf Grund des § 160 des Versicherungsaufsichtsgesetzes erlassenen Rechtsverordnung.

§ 155 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)

(3) Das Versicherungsunternehmen hat für jeden nach Art der Lebensversicherung kalkulierten Tarif zumindest jährlich die erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen zu vergleichen. Ergibt die der Aufsichtsbehörde und dem Treuhänder vorzulegende Gegenüberstellung für einen Tarif eine Abweichung von mehr als 10 Prozent, sofern nicht in den allgemeinen Versicherungsbedingungen ein geringerer Prozentsatz vorgesehen ist, hat das Unternehmen alle Prämien dieses Tarifs zu überprüfen und, wenn die Abweichung als nicht nur vorübergehend anzusehen ist, mit Zustimmung des Treuhänders anzupassen. …

§ 8b MB/KK 2009

(1) Im Rahmen der vertraglichen Leistungszusage können sich die Leistungen des Versicherers z.B. wegen steigender Heilbehandlungskosten, einer häufigeren Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder aufgrund steigender Lebenserwartung ändern. Dementsprechend vergleicht der Versicherer zumindest jährlich für jeden Tarif die erforderlichen mit den in den technischen Berechnungsgrundlagen kalkulierten Versicherungsleistungen und Sterbewahrscheinlichkeiten. Ergibt diese Gegenüberstellung für eine Beobachtungseinheit eines Tarifs eine Abweichung von mehr als dem gesetzlich oder tariflich festgelegten Vomhundertsatz, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst. …

(2) Von einer Beitragsanpassung kann abgesehen werden, wenn nach übereinstimmender Beurteilung durch den Versicherer und den Treuhänder die Veränderung der Versicherungsleistungen als vorübergehend anzusehen ist.

Tarifbedingungen zu § 8b Abs. 1 MB/KK 2009

Ergibt die Gegenüberstellung nach Absatz 1 Satz 2 bei den Versicherungsleistungen eine Abweichung von mehr als 10 %, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst; bei einer Abweichung von mehr als 5 % können alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst werden.

Karlsruhe, den 22.06.2022 – Der für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass Prämienerhöhungen in der privaten Krankenversicherung nach § 8b Abs. 1 MB/KK 2009 (Musterbedingungen 2009 des Verbandes der privaten Krankenversicherung; i.F.: MB/KK) in Verbindung mit den Tarifbedingungen zu § 8b Abs. 1 MB/KK 2009 wirksam sind. Nach dieser Vorschrift ist eine Erhöhung möglich, wenn ein Vergleich der erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen eine Abweichung von 5 % über dem tariflich festgelegten Prozentsatz ergeben hat, während § 203 VV einen Schwellenwert von 10 % verlangt. Diese Klausel sei wirksam, so der BGH, weil den Versicherern nach § 155 Abs. 3 Satz 2 VVG erlaubt ist, auch einen niedrigeren Schwellenwert festzusetzen, und der private Krankenversicherer davon lediglich Gebrauch gemacht hat. Über die zulässige Höhe der Abweichung von der gesetzlichen Norm äußern sich weder § 255 VVG noch der BGH.

Das Landgericht Köln hatte die Klage eines Versicherten gegen diverse Prämienerhöhungen abgewiesen, das Oberlandesgericht Köln hatte der Klage aber z.T. stattgegeben und die beklagte Privatversicherung zur teilweisen Rückzahlung von Prämienanteilen verurteilt. Das Oberlandesgericht hat zum einen gerügt, dass mehrere Prämienerhöhungen bereits wegen einer unzureichenden Begründung in den Mitteilungsschreiben nicht wirksam geworden seien; weitere Prämienanpassungen hat es dagegen für endgültig unwirksam gehalten, weil die Beitragsanpassungsklausel in § 8b Abs. 1 und 2 MB/KK unwirksam sei.

Der BGH hat dies nicht bestätigt. Zwar sei § 8b Abs. 2 MB/KK unwirksam, weil er eine Prämienerhöhung auch bei nur vorübergehenden Kostensteigerungen ermöglicht, und sie vor allem ins Belieben der Versicherung stelle („kann davon absehen“), wogegen sie nach § 203 VVG ausgeschlossen sei; allerdings werde dadurch nicht auch Absatz 1 der Klausel unwirksam, sodass  Prämienerhöhungen grundsätzlich möglich bleiben, so der BGH. Die Höhe des Schwellenwertes richte sich nach der Tarifbindung, die er insoweit nicht für angreifbar hält.

Da das Oberlandesgericht zu den Voraussetzungen der Tariferhöhung noch keine Feststellungen getroffen hatte, wurde das Urteil aufgehoben und der Rechtstreit zur wieteren Aufklärung an das OLG Köln zurück verwiesen, welches jetzt zu prüfen haben wird, ob die Kostenerhöhungen im Gesundheitswesen tatsächlich zu einer Abweichung der kalkulierten zu den tatsächlichen Aufwendungen führen und der Schwellenwert von 5 % deshalb überschritten ist.

https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/2022095.html?nn=10690868

Vorinstanzen:

OLG Köln – Urteil vom 22. September 2020 – 9 U 237/19

LG Köln – Urteil vom 18. September 2019 – 23 O 392/18

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 203 VVG

(2) Ist bei einer Krankenversicherung das ordentliche Kündigungsrecht des Versicherers gesetzlich oder vertraglich ausgeschlossen, ist der Versicherer bei einer nicht nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung einer für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlage berechtigt, die Prämie entsprechend den berichtigten Rechnungsgrundlagen auch für bestehende Versicherungsverhältnisse neu festzusetzen, sofern ein unabhängiger Treuhänder die technischen Berechnungsgrundlagen überprüft und der Prämienanpassung zugestimmt hat. … Für die Änderung der Prämien, Prämienzuschläge und Selbstbehalte sowie ihre Überprüfung und Zustimmung durch den Treuhänder gilt § 155 in Verbindung mit einer auf Grund des § 160 des Versicherungsaufsichtsgesetzes erlassenen Rechtsverordnung.

§ 155 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)

(3) Das Versicherungsunternehmen hat für jeden nach Art der Lebensversicherung kalkulierten Tarif zumindest jährlich die erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen zu vergleichen. Ergibt die der Aufsichtsbehörde und dem Treuhänder vorzulegende Gegenüberstellung für einen Tarif eine Abweichung von mehr als 10 Prozent, sofern nicht in den allgemeinen Versicherungsbedingungen ein geringerer Prozentsatz vorgesehen ist, hat das Unternehmen alle Prämien dieses Tarifs zu überprüfen und, wenn die Abweichung als nicht nur vorübergehend anzusehen ist, mit Zustimmung des Treuhänders anzupassen. …

§ 8b MB/KK 2009

Im Rahmen der vertraglichen Leistungszusage können sich die Leistungen des Versicherers z.B. wegen steigender Heilbehandlungskosten, einer häufigeren Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder aufgrund steigender Lebenserwartung ändern. Dementsprechend vergleicht der Versicherer zumindest jährlich für jeden Tarif die erforderlichen mit den in den technischen Berechnungsgrundlagen kalkulierten Versicherungsleistungen und Sterbewahrscheinlichkeiten. Ergibt diese Gegenüberstellung für eine Beobachtungseinheit eines Tarifs eine Abweichung von mehr als dem gesetzlich oder tariflich festgelegten Vomhundertsatz, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst. …

Von einer Beitragsanpassung kann abgesehen werden, wenn nach übereinstimmender Beurteilung durch den Versicherer und den Treuhänder die Veränderung der Versicherungsleistungen als vorübergehend anzusehen ist.

Tarifbedingungen zu § 8b Abs. 1 MB/KK 2009

Ergibt die Gegenüberstellung nach Absatz 1 Satz 2 bei den Versicherungsleistungen eine Abweichung von mehr als 10 %, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst; bei einer Abweichung von mehr als 5 % können alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst werden.

Triageregeln für Corona-Patient+innen auf der Intensivstation

Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluss vom 16.12.2021 (1 BvR 1541/20) entschieden, dass der Gesetzgeber besondere Triageregelungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen auf der Intensivstation aufstellen muss.

https://www.deutschlandfunk.de/intensivmedizin-triage-bundesverfassungsgericht-menschen-mit-behinderung-100.html#leitlinien

Die Richter gingen dabei von der Annahme aus,
„dass der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt hat, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird.“

Das ist so aber nicht richtig, denn es gibt solche Vorkehrungen natürlich längst:

Die medizinische Triage ist ein Standard zum Verhalten im medizinischen Mangelfall und gehört zur ärztlichen Ausbildung in der Notfallmedizin. Dieser Standard orientiert sich ausschließlich an den objektiven – und erkennbaren – Überlebenschancen. Eine unsachgemäße Triage-Entscheidung zu Lasten (erkennbar überlebensfähiger) Behinderter ist bereits gesetzlich geregelt, nämlich im Strafgesetzbuch. Für medizinische Laien ist sie als unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB und für Ärzt+innen und medizinisches Assistenzpersonal als Tötung durch Unterlassen nach § 222 StGB (fahrlässig) bzw. § 212 StGB (vorsätzlich) unter Strafe gestellt. Dasselbe gilt für andere medizinisch-ethische Entscheidungen, etwa bei der Frage, wen man rettet, wenn man beide zu verlieren droht, aber einen retten könnte: die Mutter oder den (behinderten, aber überlebensfähigen) Fötus.

In der speziellen Situation, die das Bundesverfassungsgericht zu bewerten hatte, ging es um schwer und teilweise schwerst behinderte Menschen, die durch eine Infektion mit dem Corona-Virus besonders gefährdet sind. Wenn lebensrettende Maßnahmen bei diesen Patienten erfolgversprechend sind, werden sie nach dem Triage-Standard aber genauso priorisiert wie nicht behinderte Menschen. OB dies aber der Fall ist, d.h. ob die Chancen wirklich gleich sind, das müssen in der Corona-Situation die Intensivmediziner+innen entscheiden, und zwar schnell. Ob die Beurteilung korrekt getroffen wurde, wird ggfls. von einem medizinischen Sachverständigen ex post überprüft. Allerdings wird dieser stets der besonderen, unübersichtlichen Situation Rechnung tragen, in der es auch zu Fehlentscheidungen kommen kann, was dann ggfls. entschuldbar wäre.

Wer den medizinischen Standard speziell zur Triage einmal nachlesen möchte, dem empfehle ich den hervorragenden Bericht bei Wikipedia und das gründliche Studium der dort angegebenen, weiterführenden Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Triage

Eine Behinderung kommt dort als Triage-Merkmal gar nicht vor und hat in der Praxis auch überhaupt keine Relevanz. Dort geht es ausschließlich darum, schnell einzugreifen, um Leben zu retten. DANACH sieht man weiter. Ob der Fahrradfahrer einen Helm getragen hatte oder nicht, interessiert den Notarzt gar nicht. Auch nicht, ob er alkoholisiert war. Die Behandlung geht immer sofort los. Ob ein Mensch in einer lebensbedrohlichen Lage einen Impfstatus hat – und ggfls. welchen –, weiß man im Zweifel ja gar nicht und interessiert in der Triage-Situation auch niemanden. Da geht es ausschließlich um technische Fragen wie Blutstillung, venöse Zugänge, Freilegung der Atemwege, Beatmung, ggfls. Herzmassage, und zwar immer das schnellste erfolgversprechende Mittel zuerst. Das schnelle und nach Möglichkeit richtige Erkennen ist das Problem. Das muss trainiert werden und das kann man nicht gesetzlich verordnen.

Das ist auf der Intensivstation ganz genauso.

Natürlich kommt es dabei – aus der Beurteilung ex post – auch zu Fehlentscheidungen. Das eindrücklichste Beispiel war der Unfalltod von Prinzessin Diana. Hätte man sie schneller in die Klinik transportiert und nicht so lange vor Ort behandelt, hätte der Gefäß-Riß evtl. repariert werden können, hieß es damals. Dieses Ereignis hatte in der Fachpresse die Diskussion um die richtigen Triage-Regeln nochmal angeheizt. Der US-amerikanische Triage-Standard priorisiert z.B. den schnellen Transport in die Klinik vor der Notfallbehandlung am Unfallort („pick&run“), und zwar auch zu Lasten einer schnellen Reanimation. Das kann im Einzelfall genauso falsch sein.
Die Notwendigkeit für eine gesetzliche Fixierung von Triage-Regeln zum Schutz von Menschen mit Behinderungen (bzw. für Ungeimpfte, Nicht-Helmträger+innen, Raucher+innen… you name it) ist daher nicht recht ersichtlich, denn eine strukturelle Vernachlässigung von solchen Patienten wurde in der Notfall- und Intensivmedizin ja gar nicht festgestellt. Eine aus der permanenten Überforderung durch Ungeimpfte geborener Motivationsmangel ist in der Erschöpfungssituation, in der das medizinische Personal sich seit mindestens 2 Jahren permanent befindet, verständlich, darf aber nicht überbewertet werden. Im Ernstfall entscheiden die Ärzt+innen sich immer für das Leben ohne Ansehung der Person. Manchmal entscheidet eben auch der Zufall, aber nie die Behinderung. Sobald Juristen sich über das Thema hermachen, führt das erfahrungsgemäß zu neuer Bürokratie, denn die Entscheidungen müssen dann schriftlich dokumentiert und begründet werden. Gegen eine Analyse ex post ist gar nichts einzuwenden. Zwangsläufig muss der Personalschlüssel nach oben angepasst werden, damit das im Nachhinein ordentlich erledigt werden kann.

Die Lage zu erkennen, die Überlebenschancen korrekt einzuschätzen und schnell und richtig zu triagieren, ist eine ärztliche Kunst, die unbedingt trainiert gehört. Der Gesetzgeber kann dabei gar nicht helfen. Er kann sachgerechte Entscheidungen aber erschweren und ggfls. auch verhindern, weil sie die (Not-)Ärzt+innen verunsichern. Dann könnten gut gemeinte gesetzliche – und entsprechend strafbewehrte – Vorschriften auch mal zu einer unsachgemäßen Bevorzugung von Patient+innen mit Behinderung und zu einer Fehl-Entscheidung zu Lasten von Patient+innen ohne Behinderungen führen. Unsichere Ärzt+innen in einer solchen Situation sind ein Graus!
Hilfreich wäre es aber, wenn die ethische Stütze der medizinischen Triage-Regeln in das Handbuch „Ärztliche Ethik“ des Weltärztebundes aufgenommen würde, Herr Professor Montgomery. Das wäre eine schöne Orientierungshilfe für die Ärzt+innen, die Krankenschwestern und die Rettungsassistent+innen, und das Verfassungsgericht könnte beruhigt davon ausgehen, dass Menschen mit Behinderungen in Deutschland standardmäßig sachgerecht behandelt werden – in der Notfallsituation und auch bei knappen Ressourcen auf der Intensivstation.

29.12.2021 / B. Brenner

partielle Coronaimpfpflicht für das Personal in Pflegeeinrichtungen

Berlin, 08.12.2021 – Im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses des Deutschen Bundestages haben Sachverständige aller Richtungen heute eine (partielle) Impfpflicht für Angehörige der Gesundheitsberufe für verfassungsrechtlich und ethisch zulässig erachtet. Die Patienten zu schützen, stelle ein legitimes Ziel einer solchen Impfpflicht dar, meinte Prof. Anika Klafki von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena. Dem stimmten sowohl eine Bundesrichter zu als auch die Vorsitzende des Ethikrats.
Das Ergebnis der Anhörung im Hauptausschuss des Deutschen Bundestages ist daher – im Gegensatz zu einer generellen Impfpflicht – schon im Ansatz falsch, denn die partielle Impfpflicht ist völlig ungeeignet, um eine Übertragung des COVID-Virus vom Personal auf die sog. „vulnerablen Gruppen“ zu verhindern.
Dieses Ergebnis beruht deshalb auf einer überraschend unsauberen Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, bei der die Prüfung der Geeignetheit das zentrale Element der Untersuchung ist. Bei der Vorsitzenden des Ethikrates überrascht das nicht weiter; ethischerseits mag es genügen, dass die Maßnahme „gefühlt“ vertretbar erscheint. Aber sie sollte nach Möglichkeit verfassungsmäßig sein. Von einem Bundesrichter und einer Juraprofessorin erwartet man deshalb sauberes juristisches Handwerk: Während die Identifizierung des verfassungsmäßigen Ziels gerade noch gelungen erscheint, scheitert die Verhältnismäßigkeitsprüfung aber bereits an der Geeignetheit des ausgewählten Mittels. Die Impfung der „Wirts“ ist nach inzwischen einhelliger Meinung der Wissenschaftler gerade nicht geeignet, eine Übertragung des Virus auf andere Menschen zu verhindern, also gelingt der Schutz der besonders „vulnerablen“ Menschen durch die Impfung des Personals auch gar nicht. Darin unterscheidet sich die partielle Impfpflicht von der generellen Impfpflicht. Während man den Schutz der besonders vulnerablen Menschen NUR durch DEREN IMPFUNG herstellen kann (und natürlich durch konsequente Testung und Hygiene der Behandlerseite), hat die generelle Impfpflicht ein ganz anderes Ziel, nämlich die Sicherung der medizinischen Grundversorgung der Gesamtbevölkerung vor einer Überlastung der Kliniken und insbesondere der Intensivstationen. Dafür erscheint eine Durch-Impfung der Bevölkerung durchaus geeignet. Aber auch hier wird die Bevölkerung nicht als „Wirt“, also Überträger angesprochen, sondern als Empfänger des Virus.
Eine saubere Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer freiheitsbegrenzenden Maßnahme wie der Impfpflicht sähe demnach so aus:
Ein Eingriff in die grundrechtlich geschützte persönliche Freiheit der Bürger+innen ist zwar gesetzlich zulässig; die Maßnahme muss aber korrekt gegen die gefährdeten Werte abgewogen werden (Stichwort „Verhältnismäßigkeit“). Der Prüfungs-Dreisatz lautet:
1. Ist das geschützte Recht zumindest gleichwertig, wenn nicht sogar höherwertig einzustufen als das einzuschränkende Grundrecht?
2. Ist der geplante Grundrechtseingriff überhaupt geeignet, das verfassungsmäßige Ziel zu erreichen?
3. Gibt es kein milderes Mittel bei gleicher Effizienz?
Bei der generellen Impfpflicht beginnen die Schwierigkeit bereits bei der Frage, welches Ziel überhaupt erreicht werden soll: Der Schutz jedes Bürgers vor einer Infektion ist es jedenfalls nicht, denn dafür ist der Staat nicht zuständig. Es kann aber z.B. um die Vermeidung von Massensterben gehen (wie etwa bei der Pockenepidemie; davon sind wir in der COVID-19-Pandemie allerdings noch weit entfernt) oder um die Vermeidung massenhafter Belegung der Intensivbetten und – damit verbunden – den Kollaps der medizinischen Grundversorgung. Da die Wissenschaft sich auch darüber einig ist, dass sich letztlich jeder Bürger infizieren wird, ob geimpft oder nicht, könnte das Zwischenziel – wenn man die Intensivbetten wegen des Personalmangels halt nun mal nicht beliebig aufstocken kann – also z.B. lauten „Schnellst- und bestmögliche Immunisierung des größten Teils der Bevölkerung“ oder / und die „Verlangsamung der Durchseuchung der Bevölkerung“.
Die Frage ist sodann, ob die generelle Impfpflicht als Maßnahme geeignet ist, massenhafte schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. Das ist wissenschaftlich allerdings inzwischen erwiesen. Diese Frage kann hier – im Gegensatz zur partiellen Impfpflicht – also positiv beantwortet werden.
Damit kommen wir zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, d.h. zur Auswahl des mildesten Mittels bei gleicher Eignung: Zur Eingrenzung bzw. Verlangsamung der Durchseuchung kommen mehrere Mittel in Betracht: Kontaktsperren, örtliche bzw. regionale Lockdowns bis hin zum bundesweiten Lockdown, strenge Hygienemaßnahmen (Desinfektion, Maske, Abstand), Abluftsysteme in sämtlichen öffentlich zugänglichen Innenräumen installieren, ständig und konsequent testen und die positiv Getesteten sofort isolieren, und natürlich – die Impfung.
Die Frage ist jetzt, ob und unter welchen Umständen die anderen Mittel gleich geeignet sind, die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, und ob sie ggfls. milder sind als die Impfpflicht.
– Die meisten Mittel, wie z.B. strenge Hygieneauflagen und Abluftsysteme, haben sich tatsächlich als nicht geeignet erwiesen, weil es an der Disziplin der Menschen und an Ressourcen mangelt (Bsp. Abluftsysteme in Schulen).
– Der T(eil-)Lockdown kommt meistens zu spät und ist daher nur unzureichend geeignet, um „die Welle“ zu verlangsamen. Wer diese Frage dennoch mit „gleich geeignet“ beantwortet, muss anschließend aber noch prüfen, ob er in der erforderlichen Konsequenz überhaupt ein milderer Grundrechtseingriff ist als die Impfpflicht. Dabei müssen nicht nur das Grundrecht auf persönliche Entscheidungsfreiheit betrachtet werden, sondern auch das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schul- und Ausbildung, die Berufsausübungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Religionsausübungsfreiheit, die Freiheit des Eigentums mit dem Recht an dem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und so weiter. Die Menge, die Tiefe und die Dauer der Grundrechtsverletzungen führen dann zwingend zu dem Ergebnis, dass ein Teil-Lockdown gegenüber der Impfpflicht der schwerere Grundrechtseingriff ist.
– Die Testpflicht mit konsequenter Isolierung ad hoc (d.h. die positiv Getesteten bleiben in einer Dekontaminierungs-Einheit im Testzelt und werden mit speziell eingerichteten Seuchenfahrzeugen in die Quarantäne verbracht!) ist in der erforderlichen Dichte und Konsequenz unrealistisch und kommt am Ehesten bei örtlich gut einzugrenzendem Infektionsgeschehen in Betracht (Bsp.: der Pockenausbruch 1962 in Monschau). Die Einhaltung der Testpflicht ist bundesweit im Übrigen nicht mit genügender Sicherheit zu kontrollieren. Somit ist die Testpflicht mit anschließender Isolierung nicht annähernd ein gleich geeignetes Mittel wie die Impfung. Die Frage, ob es ein milderes Mittel wäre, stellt sich somit gar nicht.
Im Ergebnis stellt sich daher die generelle Impfpflicht tatsächlich als das mildeste geeignete Mittel heraus, um das verfassungsmäßig gebotene Ziel, die Grundversorgung der gesamten Bevölkerung aufrecht zu erhalten, sicher zu stellen.
Bei der partiellen Impfpflicht sollen dagegen nur diejenigen zur Impfung verpflichtet werden, die mit den sog. „vulnerablen Gruppen“ engen Kontakt haben müssen, also z.B. Ärzt+innen, Krankenschwestern, Altenpflegerinnen etc. in entsprechenden Einrichtungen (wieso eigentlich nur in den Einrichtungen?). Hier ist das Ziel der Maßnahme nicht primär die Sicherstellung der medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung, sondern der Gesundheitsschutz der besonders anfälligen Patienten. Auch das kann in besonderen Fällen eine verfassungsmäßige Aufgabe des Bundes sein. Das könnte z.B. als Auflage für die Betriebserlaubnis formuliert werden. Einfacher für die Betreiber der Einrichtungen ist es aber natürlich, wenn das Personal der Normadressat ist, weil dann der Staat für die Durchsetzung sorgt. Mittelbar würden diese besonders anfälligen Personen natürlich auch die Intensivstationen füllen, wenn sie weiterhin besonders anfällig bleiben für schwere Verläufe, obwohl sie geimpft sind. Wenn das so ist, dann ist die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung auch in Gefahr. Dafür ist der Bund wiederum zuständig. Das Ziel müsste hier also lauten „Vermeidung der Übertragung des Virus auf besonders gefährdete Menschen“ und wäre als Zielbeschreibung sicher auch verfassungsgemäß.
Die Prüfung der Geeignetheit ist hier aber schon schwieriger. Es ist bekannt und wissenschaftlich erwiesen, dass die Impfung gar nicht geeignet ist, die Übertragung des Virus auf Einzelpersonen zu verhindern. Sie ist ausschließlich geeignet, schwere Krankheitsverläufe bei den GEIMPFTEN zu verhindern.
Was jetzt?
Geeignete Maßnahmen sind aber – und zwar ausschließlich
– die Impfung und konsequente Auffrischungsimpfung der vulnerablen Gruppen selbst und
– konsequente Einhaltung von Hygienemaßnahmen und tägliche Tests des ärztlichen sowie des Pflege- und Betreuungspersonals.
Ob das Pflege- und Betreuungspersonal selbst geimpft ist oder nicht, ist dagegen völlig irrelevant.
Etwas anderes ergibt sich nur, wenn die Wissenschaftler herausfinden, dass auch die Impfung des „Wirts“ eine Übertragung des Virus auf Dritte erheblich erschwert. Dann muss die Prüfung unter diesem Aspekt wiederholt werden.

Bonn, den 08.12.2021 / B. Brenner

Behandlung von Krankenhauskeimen mit Bakteriophagen – billig, effizient und auch in Deutschland zulässig

Künstliches Hüftgelenk? Herzkatheter? Heute alles Routine-Operationen. Aber: Die Wunde heilt und heilt nicht. Ein sicherer Hinweis auf eine Infektion mit einem Krankenhauskeim. Der Abstrich bestätigt den schlimmen Verdacht: multiresistenter stapyhlococcus aureus (MRSA), besser bekannt unter der Bezeichnung „Krankenhauskeim“.

 

Die Medien berichten bereits seit Jahren über die Seuche der sog. „Krankenhauskeime“ in deutschen Kliniken. Ca. 15.000 Patienten sterben angeblich immer noch jährlich an dieser Seuche, freilich erst nach langem und elendem Siechtum. Und die Dunkelziffer ist hoch. Typische Einfallstore sind orthopädische Operationen am Knochen und den Gelenken, Herzkatheter, aber auch einfache Infusionszugänge (Viggo, ZVK u.a.) schleppen den Keim ein. Eine monatelange Therapie mit chemischen Antibiotika schließt sich an, ist aber in aller Regel nicht kurativ. Das heißt, die Infektion blüht bei nächster Gelegenheit wieder auf, macht Abszesse und frisst sich weiter. Ist erst mal das Knochengewebe befallen, ist eine Amputation fast nicht mehr zu vermeiden. Und selbst die ist nicht sicher kurativ. Die Ärzte sind hilflos: Weder können sie die Infektionen durch Hygienemaßnahmen verhindern (jedenfalls nicht in Deutschland), noch ist die Seuche behandelbar.

Diese Seuche ist wohlweislich auch nicht meldepflichtig, weil sich dann behördliche Maßnahmen bis zur Schließung ganzer Abteilungen und Kliniken, Berufsverbote für Träger der Seuche etc. anschließen müssten.

Sie wird in der Klinik übertragen (daher der Name), und zwar durch Hände, Katheter, Kanülen, unzureichend sterilisiertes OP-Besteck, infizierte Klimaanlagen in OP-Sälen und auf Intensivstationen. Das Klinikpersonal gilt in Deutschland als weitestgehend durchseucht und als Hauptursache für die Übertragung. Chemische Antibiotika helfen nicht, neue chemische Antibiotika sind nicht in Sicht. Die Seuche greift also ungehindert weiter um sich.

Dabei gibt es Abhilfe: Mit der sog. „Phagentherapie“, einer biologischen Antibiose, könnten viele dieser Patienten heute noch am Leben und wieder gesund und munter sein, etliche teure und quälende Krankenhausaufenthalte und sogar Amputationen können einfach und kostengünstig vermieden werden.

Diese Art der Therapie wird im gesamten Ostblock seit fast 100 Jahren erfolgreich angewendet und wurde dort auch ständig weiterentwickelt. Dort gibt es Phagenpräparate inzwischen in jeder Apotheke auf Rezept.

Was ist „Phagentherapie“ und was kann der Ostblock, was wir im Westen nicht dürfen?

„Bakteriophagen“ sind Viren, die in der Umwelt überall vorkommen. Vor ca. 100 Jahren entdeckte der franko-kanadische Forscher Félix Huber d’Hérelle die Viren. Er entdeckte, dass sie speziell Bakterien infizieren und zum Platzen bringen. Während der (reiche) Westen sich seit der Entdeckung des ebenfalls hochwirksamen Penicillins auf die Fortentwicklung von chemischen Antibiotika konzentrierte, wurden die Bakteriophaen als biologische Antibiotika im Jahr 1930 von dem georgischen Forscher Prof. Georgi Eliava mit Hilfe von Félix d‘Hérelle, in Tiflis, Georgien, zur Anwendungsreife beim Menschen gebracht. In der Therapie multiresistenter Keime werden sie speziell auf Problemkeime wie staphylococcus aureus, pseudomonas aeruginosa, escherischia coli (E. coli) und andere gram-negative Keime hin abgerichtet. Im Wundgebiet appliziert, finden sie ihren „Wirt“ auch im entferntesten Knochensubstrat, infiltrieren ihn, vermehren sich in ihm und töten ihn schließlich ab. Finden sie ihren ganz speziellen „Wirt“ nicht mehr, können sie sich nicht mehr vermehren und gehen schließlich ein. Der Patient ist keimfrei, die Wunde kann endlich abheilen und der Patient wird wieder gesund. So einfach ist das nicht in jedem Fall, aber in sehr vielen Fällen.

https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Phagentherapie-Bakterien-mit-Viren-bekaempfen,phagen101.html

Im Jahr 1936 wurde die erste Phagenmischung zur Bekämpfung der Cholera im Südosten der damaligen UdSSR kommerziell eingesetzt. Das „Georgyi-Eliava“-Institut in Tiflis versorgt seither bis heute ganz selbstverständlich die Patienten der ehemaligen Sowjetunion, und zwar Zivilpersonen, vor allem aber verletzte Soldaten, mit dieser billigen, einfachen, und hochwirksamen Therapie. In letzter Zeit werden auch westeuropäische Patienten von dort mitversorgt. Warum eigentlich?

In der EU sind solche Präparate als Fertig-Arzneien nicht zulassungsfähig, denn sie wirken individuell und müssen individuell hergestellt werden. Sie eignen sich deshalb nicht für die vorgeschriebenen, randomisierten Studien. In Polen, Russland und Georgien und neuerdings auch in Belgien* sind Phagenpräparate dagegen zugelassen und in Apotheken auf spezielles Rezept hin erhältlich, das lediglich den Bakterienstamm ausweisen muss.

*https://www.dw.com/de/phagen-bakterienfresser-aus-georgien-als-medizin-von-morgen/a-51309915

Warum gibt es in Deutschland keine Phagentherapie?

Diese Information ist so nicht richtig: Es gibt sie auch in Deutschland. In Deutschland darf jeder Arzt im Rahmen der Therapiefreiheit selbst hergestellte Medikamente am Patienten anwenden, ohne ein Zulassungsverfahren dafür durchlaufen zu müssen. Nur das Auf-den-Markt bringen ist ohne Zulassung nicht erlaubt. Wenn also eine Uniklinik über ein Institut für Mikrobiologie und eine hauseigene Apotheke verfügt, dann kann sie für jeden ihrer Patienten das geeignete Bakteriophagenpräparat ohne Zulassung durch das BfARM individuell herstellen und den Patienten damit behandeln. Der Arzt muss lediglich gegenüber dem Gewerbeaufsichtsamt nachweisen, dass das Herstellungsverfahren sicheren Standards entspricht.

Den rechtlichen Rahmen zu dem sog. „individueller Heilversuch“ liefern im Übrigen Art. 37 des Helsinki-Protokolls des Welt-Ärztebundes sowie § 21 Abs. 2 Ziff. 6 neue Fassung des  deutschen Arzneimittelgesetzes (AMG) im Rahmen des sog. „compassionate-use“ oder „off-label-use„. Dort heißt es:

„(2) Einer Zulassung bedarf es nicht für Arzneimittel, die […]
6. unter den in Artikel 83 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 genannten Voraussetzungen kostenlos* für eine Anwendung bei Patienten zur Verfügung gestellt werden, die an einer zu einer schweren Behinderung führenden Erkrankung leiden oder deren Krankheit lebensbedrohend ist, und die mit einem zugelassenen Arzneimittel nicht zufrieden stellend behandelt werden können; dies gilt auch für die nicht den Kategorien des Artikels 3 Absatz 1 oder 2 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 zugehörigen Arzneimitteln; Verfahrensregelungen werden in einer Rechtsverordnung nach § 80 bestimmt. […]

https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelzulassung/KlinischePruefung/CompassionateUse/_node.html

*Die Kosten müssen inzwischen von den Trägern der GKV übernommen werden.

Wenn es also zulässig ist, wo bekommt die Klinik dann in Deutschland die Virenstämme her?

Das Leibniz-Institut in Braunschweig hält die größte Sammlung an Mikroorganismen vor, darunter auch die inzwischen über 6000 bekannten Bakteriophagenstämme. Da ist für jedes Bakterium etwas Passendes dabei. Die Phagenlösungen werden vom Fraunhofer-Institut ITEM (= Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin), Braunschweig, speziell aufgereinigt und an die Krankenhausapotheken ausgeliefert, die dann die Lösung zur Anwendung am Patienten herstellen.

Auf diese Weise behandeln tatsächlich bereits mehrere deutsche Kliniken ihre Patienten seit mehreren Jahren mit speziell für den Keimbefall zusammengestellten Bakteriophagen-Cocktails: Dazu gehören die Klinik für Transplantationsmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, die Charité und das Bundeswehrkrankenhaus in Berlin:

https://www.mhh.de/kliniken-und-spezialzentren/httg/bakteriophagen;

https://www.bundeswehr.de/de/organisation/sanitaetsdienst/aktuelles-im-sanitaetsdienst/forschung-wenn-viren-gegen-bakterien-helfen–4490782

Weitere Anwender sind Kliniken in Finnland und das Militärkrankenhaus „Reine Astrid“ in Brüssel. Belgien ist übrigens das einzige westeuropäische Land, das Phagenpräparate an der Europäischen Zulassungsbehörde vorbei zugelassen hat und sie auch exportiert, z.B. nach Frankreich. Warum also nicht auch nach Deutschland?

Stellt eine Klinik das spezielle Phagenpräparat selbst her, müssen die Kosten der Behandlung von den Trägern der GKV und der PKV übernommen werden. Das ist nicht so wild, denn die Therapie ist

  1. billig*,
  2. effizient (man braucht in der Regel nur 1 bis 2 Behandlungszyklen),
  3. einfach, und vor allem
  4. im Vergleich zu chemischen Antibiotika weitgehend nebenwirkungsfrei.

*ein Zyklus à 5 Ampullen kostet in einer Apotheke in Georgien beispielsweise umgerechnet € 90,-

Was bedeutet das für die Kliniken und die niedergelassenen Ärzte?

Nicht jedes Krankenhaus hat die Möglichkeit, Bakteriophagenlösungen selbst herzustellen, niedergelassene Ärzt*innen erst recht nicht. Aber Krankenhäuser mit einer eigenen Apotheke und natürlich alle Universitätskliniken, die etwas auf sich halten, können das und dürfen das auch. Für die behandelnden Ärzt*innen bedeutet das, dass die Gefahr einer Arzthaftung wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers aussetzen und sich sogar wegen einer unterlassene Hilfeleistung strafbar machen könnten, allerdings nicht, weil sie die Phagentherapie nicht selbst angewandt haben, sondern weil sie die Patienten nicht darüber aufgeklärt haben, dass es diesen Therapieansatz an bestimmten Kliniken in Deutschland gibt. Auf Wunsch des Patienten und je nach Kapazität dieser Kliniken müssen sie sie selbstverständlich auch dorthin einweisen.

Diese Möglichkeit der Behandlung ist den meisten Ärzt*innen allerdings herzlich unbekannt. Das allein ist schon skandalös, aber unser fabelhafter Gesundheitsminister hätte schon weit vor der Pandemie im Rahmen der Seuchenbekämpfung dafür sorgen können – und auch müssen – dass

  1. auch diese Seuche meldepflichtig wird, und
  2. dass die betroffenen Patient*innen im Inland adäquat behandelt werden können.

Hat er aber nicht. Die Behandlung mit Bakteriophagenpräparaten ist offenbar zu billig und zu effizient. Für die Pharma-Lobby daher uninteressant. Demgegenüber bringt die monatelange Behandlung von zig-tausenden Patienten mit teuren und ineffizienten Antibiotika natürlich wesentlich mehr Umsatz, der bei einer Zulassung von Phagen zwar nicht ganz, aber doch erheblich einbrechen würde.

Es ist mir wichtig, darüber zu berichten, damit Ärzt*innen wie Patient*innen und ihre Angehörigen erfahren, dass eine einfache, billige und kurative Behandlung bereits seit vielen Jahren auch im Inland und auf Kosten der Krankenkassen für jeden Patienten erreichbar ist.

Die Hilflosigkeit der Ärzt*innen in Deutschland, das massenhafte, unnötige Sterben und unendliche Leid der Betroffenen und ihrer Angehörigen in Deutschland kann so endlich ein Ende finden.

Bitte setzen Sie sich gerne mit mir in Verbindung, wenn Sie Näheres wissen möchten.

Bonn, den 28.06.2021/RA’in Barbara Brenner

KV/ZA – § 103 Abs. 3a SGB V – Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes – Gemeinschaftspraxis – Praxiskauf – Verbrauch des Nachbesetzungsantrags durch Rücknahme – Voraussetzungen für erneutes Nachbesetzungsverfahren – Gesundheitsstrukturgesetz

BSG, Urt. v. 12.02.2021

Gelsenkirchen – Um künftig im Rahmen einer überörtlichen orthopädischen Berufsausübungsgemeinschaft („BAG“) tätig zu werden, beantragte ein Mitglied der BAG, der Orthopäde Dr. We., beim Zulassungsausschuss („ZA“) der KV Westfalen-Lippe, seinen Vertragsarztsitz an den Vertragsarztsitz eines andernorts niedergelassenen Orthopäden am Zielort zu verlegen. Gleichzeitig sollte der am Zielort zugelassene Orthopäde auf seine Zulassung verzichten und die Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens zu Gunsten der BAG beantragen. Diese wollte den Praxissitz nicht selbst, sondern durch den abgebenden Orthopäden als angestelltem Arzt weiter betreiben.

Der ZA hatte gem. § 103 Abs. 3a, Satz 3 SGB V zunächst darüber zu entscheiden, ob der KV-Sitz am Zielort wegen der Versorgungslage überhaupt fortführungsbedürftig war. Nachdem das bejaht wurde, fand die Ausschreibung durch die KV statt. Es bewarben sich die BAG und der Kläger (Dr. Wi.), der die Kassenzulassung am Zielort  persönlich ausüben wollte.

Der ZA traf seine Auswahlentscheidung zugunsten der BAG. Die KV genehmigte dieser daraufhin, den Vertragsarztsitz des abgebenden Orthopäden zu übernehmen und die Praxis künftig mit diesem als angestelltem Arzt fortzuführen. Der Kläger wurde nicht berücksichtigt. Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Berufungsausschuss zurück und ordnete die sofortige Vollziehung der Entscheidung an. Dagegen klagte Dr. Wi. Vor dem Landessozialgericht.

Nachdem dieser Klage erhoben hatte, nahm der abgebende Arzt seinen Antrag auf Nachbesetzung jedoch wieder zurück, und beendete die Situation damit vorzeitig. Die Klage des abgelehnten Mitbewerbers, die ursprünglich zulässig gewesen war, wurde somit nachträglich unzulässig. Die Klage wurde vom Sozialgericht denn auch als unzulässig abgewiesen. Dagegen wandte sich Dr. Wi. mit der Sprungrevision zum BSG mit dem Argument, die Rücknahme des Antrags sei unwirksam, da ansonsten einem missbräuchlichen Einfluss des abgebenden Arztes auf das Ausschreibungsverfahren Tür und Tor geöffnet sei. Die Revision des Dr. Wi. zum BSG hatte jedoch keinen Erfolg:

Das Nachbesetzungsverfahren dient den Interessen des abgabewilligen Arztes bzw. seiner Erben. Die Interessen der Bewerber um den Sitz sind nur insoweit zu berücksichtigen, als die Auswahl unter ihnen nach den gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien erfolgt. Auch ein vom ZA ausgewählter Bewerber hat im Verhältnis zum abgabewilligen Arzt immer nur eine tatsächliche Chance auf die Übernahme von Praxis und Vertragsarztsitz, aber keine Rechtsposition, kraft derer die Durchführung des Verfahrens gegen den Willen des abgebenden Arztes verlangt werden könnte“, so das BSG. Ein Bewerber, der nicht ausgewählt worden sei, könne demnach erst recht keine schutzwürdige Rechtsposition erwerben.

https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/2020_02_12_B_06_KA_19_18_R.html

Fazit:

Ein abgabewilliger Arzt hat jedoch bis zur rechtkräftigen Bestellung eines Bewerbers durch die KV die Möglichkeit, das Nachbesetzungsverfahren durch Rücknahme seines Antrags jederzeit zu beenden. Er darf sich dabei zwar von Überlegungen leiten lassen, die sich auf die Person des Bewerbers beziehen; das ist aber gefährlich, denn das Ausschreibungsrecht ist nach Rücknahme des Antrags grundsätzlich erst einmal verbraucht. Der antragsrücknehmende Arzt läuft daher Gefahr, dass die Übergabe ein- für allemal scheitert, wenn er den Antrag nach der Auswahlentscheidung des ZA wieder zurücknimmt oder dem ausgewählten Arzt die Praxis dann doch nicht verkauft, etwa weil ihm der Kaufpreis dieses Kandidaten zu niedrig erscheint, und der nicht ausgewählte Kandidat mehr geboten hatte.

Vorliegend führte die Rücknahme des Ausschreibungsantrags also notwendigerweise zum Scheitern des gesamten Nachbesetzungsverfahrens. Eine erneute Ausschreibung ist nur möglich, wenn für die Rücknahme des Antrags billigenswerte Gründe angeführt werden können. Die Absicht, auf die Auswahl eines bestimmten Nachfolgers hinzuwirken, ist grundsätzlich kein solcher Grund. Auch ob ein zu niedriger Kaufpreis ein solches Kriterium sein kann, ist fraglich. Mit der Rücknahme des Antrags stand das gesamte BAG-Konstrukt somit wieder infrage. Die Rücknahme wird dennoch wohl überlegt gewesen sein. Denn mit der Antragsrücknahme hatte der abgebende Orthopäde immerhin auch auf die Klageerhebung durch den Mitbewerber reagiert, die ein langjähriges sozialgerichtliches Verfahren und somit auch einen langjährigen Schwebezustand bezüglich der Nachbesetzung seines Sitzes und seiner Angestelltentätigkeit in der BAG ausgelöst hatte. Das könnte durch ein erneutes Ausschreibungsverfahren verhindert werden, so die Hoffnung. Das BSG deutete im vorliegenden Fall in der Tat an, dass in dieser Motivation, nämlich der Abkürzung eines jahrelangen Schwebezustandes, tatsächlich ein berechtigtes Interesse des Abgebenden für ein erneutes Nachbesetzungsverfahren liegen könnte.

Dieser Hinweis des BSG-Senats wird Schule machen, denn der zeitliche Schwebezustand ist bei „Konkurrenten“-Klagen im Nachbesetzungsverfahren immer gegeben. Fraglich ist, wie die Konkurrenz dieses Instrument künftig nutzen wird. Im vorliegenden Fall wird die BAG in einem zweiten Nachbesetzungsverfahren die Chancen, die durch § 103 Abs. 4, Satz 5, Ziff. 1 – 9 eröffnet werden, nutzen und gut vorbereiten wollen.

Die Höhe des Kaufpreises, also das wirtschaftliche Interesse des abgebenden Arztes bzw. seiner Witwe, sind jedenfalls kein Kriterium für die Auswahl durch die KV. Die Praxis als Wertanlage scheidet somit seit Einführung des Nachbesetzungsverfahrens nach § 103 Abs. 3a SGB V durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. 12. 1992 (BGBl I S. 2266) als Kriterium für die KV’en aus. Auch Kinder sind als Nachfolger nicht gesetzt, es sei denn, sie waren – wie jede/-r angestellte Ärztin/Arzt – bei Eintritt des Erbfalles bzw. bei Abgabe des KV-Sitzes bereits seit mindestens 3 Jahren als Angestellte in der Praxis der Eltern tätig.

https://www.aerztezeitung.de/Politik/Das-hat-das-Gesundheitsstrukturgesetz-gebracht-286232.html

§ 103 Abs. 3a SGB  https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__103.html

1Wenn die Zulassung eines Vertragsarztes in einem Planungsbereich, für den Zulassungsbeschränkungen angeordnet sind, durch Tod, Verzicht oder Entziehung endet, und die Praxis von einem Nachfolger weitergeführt werden soll, entscheidet der Zulassungsausschuss auf Antrag des Vertragsarztes oder seiner zur Verfügung über die Praxis berechtigten Erben, ob ein Nachbesetzungsverfahren nach Absatz 4 für den Vertragsarztsitz durchgeführt werden soll. 2Satz 1 gilt auch bei Verzicht auf die Hälfte oder eines Viertels der Zulassung oder bei Entziehung der Hälfte oder eines Viertels der Zulassung; Satz 1 gilt nicht, wenn ein Vertragsarzt, dessen Zulassung befristet ist, vor Ablauf der Frist auf seine Zulassung verzichtet. 3Der Zulassungsausschuss kann den Antrag ablehnen, wenn eine Nachbesetzung des Vertragsarztsitzes aus Versorgungsgründen nicht erforderlich ist; dies gilt nicht, sofern die Praxis von einem Nachfolger weitergeführt werden soll, der dem in Absatz 4 Satz 5 Nummer 4, 5 und 6 bezeichneten Personenkreis angehört oder der sich verpflichtet, die Praxis in ein anderes Gebiet des Planungsbereichs zu verlegen, in dem nach Mitteilung der Kassenärztlichen Vereinigung aufgrund einer zu geringen Ärztedichte ein Versorgungsbedarf besteht oder sofern mit der Nachbesetzung Festlegungen nach § 101 Absatz 1 Satz 8 befolgt werden. 4Für einen Nachfolger, der dem in Absatz 4 Satz 5 Nummer 4 bezeichneten Personenkreis angehört, gilt Satz 3 zweiter Halbsatz mit der Maßgabe, dass dieser Nachfolger die vertragsärztliche Tätigkeit in einem Gebiet, in dem der Landesausschuss nach § 100 Absatz 1 das Bestehen von Unterversorgung festgestellt hat, nach dem 23. Juli 2015 erstmals aufgenommen hat. 5Für einen Nachfolger, der dem in Absatz 4 Satz 5 Nummer 6 bezeichneten Personenkreis angehört, gilt Satz 3 zweiter Halbsatz mit der Maßgabe, dass das Anstellungsverhältnis oder der gemeinschaftliche Betrieb der Praxis mindestens drei Jahre lang angedauert haben muss. 6Satz 5 gilt nicht, wenn das Anstellungsverhältnis oder der gemeinschaftliche Praxisbetrieb vor dem 5. März 2015 begründet wurde. 7Hat der Landesausschuss eine Feststellung nach Absatz 1 Satz 3 getroffen, soll der Zulassungsausschuss den Antrag auf Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens ablehnen, wenn eine Nachbesetzung des Vertragsarztsitzes aus Versorgungsgründen nicht erforderlich ist. 8Im Fall des Satzes 7 gelten Satz 3 zweiter Halbsatz sowie die Sätze 4 bis 6 entsprechend; Absatz 4 Satz 9 gilt mit der Maßgabe, dass die Nachbesetzung abgelehnt werden soll. 9Der Zulassungsausschuss beschließt mit einfacher Stimmenmehrheit; bei Stimmengleichheit ist dem Antrag abweichend von § 96 Absatz 2 Satz 6 zu entsprechen. 10§ 96 Absatz 4 findet keine Anwendung. 11Ein Vorverfahren (§ 78 des Sozialgerichtsgesetzes) findet nicht statt. 12Klagen gegen einen Beschluss des Zulassungsausschusses, mit dem einem Antrag auf Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens entsprochen wird, haben keine aufschiebende Wirkung. 13Hat der Zulassungsausschuss den Antrag abgelehnt, hat die Kassenärztliche Vereinigung dem Vertragsarzt oder seinen zur Verfügung über die Praxis berechtigten Erben eine Entschädigung in der Höhe des Verkehrswertes der Arztpraxis zu zahlen. 14Bei der Ermittlung des Verkehrswertes ist auf den Verkehrswert abzustellen, der nach Absatz 4 Satz 8 bei Fortführung der Praxis maßgeblich wäre.“

  • 103 Abs. 4 Satz 5 Ziff. 6:

„Bei der Auswahl der Bewerber sind folgende Kriterien zu berücksichtigen:

  1. ob der Bewerber ein angestellter Arzt des bisherigen Vertragsarztes oder ein Vertragsarzt ist, mit dem die Praxis bisher gemeinschaftlich betrieben wurde,

  1. bei medizinischen Versorgungszentren die Ergänzung des besonderen Versorgungsangebots; dies gilt entsprechend für Vertragsärzte und Berufsausübungsgemeinschaften mit einem besonderen Versorgungsangebot.“

fehlerhafte Brustimplantate (PIP): TÜV Rheinland in Frankreich zu € 60 Mio. Schadensersatz verurteilt

  1. Februar 2021 – TÜV Rheinland haftet nun doch für fehlerhafte Brustimplantate (PIP) in Frankreich

10 Jahre nach dem Skandal um minderwertige Brustimplantate des inzwischen insolvent gegangenen französischen Herstellers PIP hat ein Berufungsgericht in Aix-en-Provence den TÜV Rheinland nun zur Zahlung von Entschädigungen in Höhe von € 60 Mio. verurteilt.

Das französische Handelsgericht (Cour de commerce) in Toulon hatte den TÜV Rheinland bereits im Jahre 2017 zur Zahlung von Schadensersatz in ebendieser Höhe an rund 20.000 Klägerinnen verurteilt; der TÜV Rheinland musste diese Summe auch vorläufig zahlen. Dieses Urteil wurde nunmehr vom Berufungsgericht in Aix-en-Provence bestätigt. Der TÜV Rheinland habe bei der Zertifizierung der Produktion des Herstellers Poly Implant Prothèse (PIP) seine Pflichten ver­letzt, so das Gericht. Das Berufungsgericht erklärte allerdings 6.205 Klagen für unzulässig, da anhand der eingereichten Unterlagen nicht sicher dargelegt werden konnte, dass den Klägerinnen das vom TÜV „zertifizierte“ Modell eingesetzt worden war. Weiteren 13.456 Klägerinnen sprach das Gericht jedoch Schadenersatz zu.

Die Fa. PIP hatte in Täuschungsabsicht geringere Mengen medizinischen Silikons eingekauft und die Rechnungen dem TÜV Rheinland präsentiert, tatsächlich aber in der weit überwiegenden Zahl der Implantate billigeres Industriesilikon verwendet. Der TÜV Rheinland hatte sich so verteidigt, dass er selbst Opfer einer Täuschung durch das Unternehmen geworden sei. Die Anwälte des TÜV waren auch der Meinung, dass die Qualität des eingesetzten Silikons selber nicht vom Prüfauftrag umfasst gewesen sei und dass man zu unangekündigten Kontrollen nicht verpflichtet gewesen sei. Das ließen die Richter*innen aber nicht gelten:

Der TÜV Rheinland sei auch nach der damals bereits geltenden Europäischen Verordnung über Medizinprodukte verpflichtet gewesen, die Herkunft des verwendeten Materials zu überprü­fen. Dazu hätten die Lagerbücher des Herstellers PIP untersucht werden müssen. Eine solche Kontrolle hätte es dem TÜV und seinem französischen Unterauftragnehmer ermöglicht, die Diskrepanz zwischen der Menge des vom einzigen zugelassenen Lieferanten bezogenen Gels und der Anzahl der hergestellten Brustprothesen festzustellen, so das Gericht. Dieser Ermittlungsauftrag hätte unange­kündigte Kontrollen zur Folge haben müssen.

Die Fa. PIP hatte weltweit rund eine Million Brustimplantate verkauft, die mit billigem Industriesilikon gefüllt waren. Diese wurden im Laufe der Zeit rissig, und das Industriesilikon trat in das umliegende Gewebe aus, zum Teil mit verheerenden Auswirkungen. Auch in Deutschland waren tausende Patientinnen betroffen. Die Klage einer deutschen Patientin gegen die Haftpflichtversicherung der Herstellerfirma wurde z.B. abgewiesen, weil die Versicherung die Deckung auf Schadensfälle in Frankreich begrenzt hatte (sog. „Territorialklausel“). Der EuGH hatte diese Versicherungspraxis europarechtlich nicht beanstandet (Rechtssache C-581/18). Ein Prozess der AOK gegen den TÜV Rheinland läuft derzeit noch vor dem OLG Nürnberg. Nach deutschem Recht ist es unsicher, ob es eine unmittelbare Durchgriffshaftung Geschädigter gegen den TÜV als Zertifizierungsstelle geben kann. Bisher wurde dies stets abgelehnt (s. dazu unten).

In Frankreich sind noch etliche Prozesse anhängig, das aktuelle in Aix-en-Provence ist allerdings das Größte. Dem Urteil wird denn auch in Frankreich eine bahnbrechende Wirkung zugesprochen.

Im Jahr 2013 hatte das Handelsgericht von Toulon den TÜV Rheinland bereits wegen Ver­nachlässigung seiner Kontroll- und Aufsichtspflichten verurteilt, an sechs Vertreiber der PIP-Implan­tate 5,8 Millionen Euro Schadensersatz zu zahlen. Zwei Jahre später wurde der TÜV im Berufungsverfahren jedoch wieder von jeglicher Haftung freigesprochen. Das fran­zösische Kassationsgericht (Cour de Cassation) hob dieses Urteil im Jahr 2018 aber wieder auf und verwies den Fall an das Pariser Berufungsgericht, das den Fall nunmehr zu beurteilen und dabei die Erwägungen der Cour de Cassation zu berücksichtigen hat.

In einem weiteren Verfahren mit rund 2.000 Klägerinnen wird eine Entscheidung im Mai erwartet. Auch in Toulon läuft noch ein weiteres Verfahren, in dem im Sommer ein Urteil fallen soll.

Quelle: afp/aerzteblatt.de

Auch deutsche Gerichte hatten sich mit Schadensersatzfragen zu befassen, z.B. das LG und das OLG Nürnberg. In diesem Fall klagt die AOK als Kostenträgerin für Folge-Operationen einiger bei ihr versicherter Patientinnen, die sich die Implantate wieder hatten entfernen lassen müssen. (Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für Brustimplantate bei Brustkrebspatientinnen, Anm. d. Autorin). Nach Auffassung des LG und des OLG Nürnberg gibt es für eine Durchgriffshaftung Geschädigter gegenüber der Prüfstelle im deutschen Recht aber keine Anspruchsgrundlage. Zum einen entfalte der Prüfauftrag selbst keinerlei Drittwirkung, und zum anderen habe der TÜV Rheinland keine Körperverletzung begangen, so die Richter. Sowohl eine vertragliche als auch eine deliktische Haftung lehnten die Richter demnach in beiden Instanzen ab. Der BGH ist etwas anderer Auffassung. Zwar bestätigte er in seinem Urteil vom 27.02.2020 (Az. VII ZR 151/18) die Auffassung des OLG Nürnberg, wonach der Prüfauftrag zwischen dem TÜV Rheinland und der Fa. PIP keine Schutzwirkung für die Patientinnen entfalte, und somit als Anspruchsgrundlage nicht in Betracht komme. Der Zweck des Vertrages sei nicht auf den Schutz der Patientinnen ausgelegt, sondern diene der Eröffnung des Marktzugangs, so der BGH. Das ist richtig, denn ohne die EU-Konformitätszertifizierung gibt es kein CE-Siegel, und ohne ein CE-Siegel ist die Vermarktung schwieriger, wenngleich nicht unmöglich. Die CE-Kennzeichnung trifft aber gerade keine Aussage über Qualität und Unbedenklichkeit von Medizinprodukten und kann daher auch keine Schutzwirkung entfalten, so der BGH. Dennoch hat der BGH ausgeführt, dass die Vorschriften zum EU-Konformitätsprüfungsverfahren, das zur Erteilung des CE-Kennzeichnung führt,  gleichwohl als Schutznorm im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB in Betracht kommen, weil die Verwender, also die Ärzte und die Patientinnen, dieser CE-Kennzeichnung faktisch eben doch ein erhöhtes Vertrauen auch und gerade was die Qualität und Unbedenklichkeit des Produkts angeht, entgegen bringen. Da demnach eine deliktische Haftung durchaus in Betracht komme, hat der BGH den Prozess an das OLG Nürnberg zurück verwiesen, das diesen Widerspruch nun auflösen muss. In Frankreich wurde die Frage der drittschützenden Wirkung offenbar im Sinne der Patientinnen gelöst.

Der Skandal um die fehlerhaften Brustimplantate hatte wieder einmal aufgedeckt, dass Medizinprodukte keinerlei Qualitäts- und Unbedenklichkeitskontrolle durchlaufen müssen, und zwar weder in Deutschland noch in ganz Europa. Im Grunde genommen kann daher in Europa jeder Heimwerker x-beliebige Implantate in seiner Garage herstellen und an Kliniken verkaufen, die diese dann ebenso unkontrolliert einsetzen könnten. Weder Hüftprothesen noch Herzkatheter noch – wie der Fall PIP zeigt – Brustimplantate werden in Deutschland auf Bruchsicherheit und Gewebeverträglichkeit hin überprüft. Das hatte bereits bei Hüft- und Kniegelenksendoprothesen zu erheblichen Gesundheitschäden bei den ohnehin gehandicapten Patient*innen geführt. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Der Gesetzgeber hat sich immerhin zu der Errichtung eines Implantateregisters hinreißen lassen, wodurch Patienten schneller über Produktfehler unterrichtet werden können sollen, weil diese meldepflichtig gemacht werden:

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/implantateregister-errichtungsgesetz.html

Eine Prävention im Sinne eines Zulassungsverfahrens ähnlich dem für Medikamente ist jedoch nach wie vor nicht vorgesehen. Dafür wäre auch die EU zuständig, und da sei die Industrie vor!

Razzia bei AOK wegen Abrechnungsbetrug

Deutsches Ärzteblatt, Donnerstag, 16. November 2017

„Düsseldorf – Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat wegen des Verdachts auf Abrechnungsbetrug zulasten des Gesundheitsfonds Büros der AOK Rheinland/Hamburg durchsucht. „Die Durchsuchungen haben am 27. September 2017 in Hamburg und Düsseldorf stattgefunden“, sagte Oberstaatsanwältin Nana Frombach der Rheinischen Post vom Donnerstag. „Hierbei wurden insgesamt 86 Kartons Beweismittel sichergestellt, die nun ausgewertet werden müssen.”

Bei den Ermittlungen geht es der Zeitung zufolge um das Codieren von ärztlichen Diagnosen bei Abrechnungen. Laut Frombach soll es zunehmende Bestrebungen der Krankenkassen gegeben haben, unter anderem über Betreuungsstrukturverträge mit den Kassenärztlichen Vereinigungen, Ärzte dazu zu bewegen, so zu codieren, dass die Krankenkassen möglichst viel Geld aus dem Risiko­struk­tur­aus­gleich erhalten. „In diesem Zusammenhang prüfen wir mögliche betrugsrelevante Täuschungshandlungen durch Verantwortliche der AOK Rheinland/Hamburg.”

AOK weist Vorwurf von Abrechnungsbetrug zurück

Die AOK bestätigte der RP zufolge die Durchsuchungen, wies aber alle Vorwürfe zurück. „Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat am 27. September 2017 die Geschäfts­räume der AOK Rheinland/Hamburg in Düsseldorf und Hamburg aufgesucht, die AOK Rheinland/Hamburg unterstützt die Staatsanwaltschaft bei der Aufklärung des sozialversicherungsrechtlichen Sachverhalts – sie weist jedoch jeglichen strafrechtlichen Vorwurf entschieden zurück“, teilte die Kasse der Zeitung mit.“

© afp/aerzteblatt.de

Ärzte und Krankenkassen: Extravergütung für Codierleistung sind verboten! Erste Ermittlungen bei AOK

Schon wieder stehen Ärzte unter Betrugsverdacht. Diesmal geht die Anstiftung aber von den Krankenkassen aus. Worum geht’s?

Es geht um die Einnahmenseite der gesetzlichen und der Ersatzkassen und zwar um die Teilhabe einzelner Kassen an den Gesundheitsfonds. Dieser Fonds wurde zusammen mit dem Risikostrukturausgleich geschaffen, der diejenigen Krankenkassen begünstigen soll, die gesetzlich verpflichtet sind, ALLE Bürgerinnen un Bürger aufzunehmen, insbesondere die 0-Beitragszahler. Davon haben die AOK’s traditionell besonders viele, die traditionell auch besonders krank sind, also teuer. Demgegenüber haben Krankenkassen wie die Techniker Krankenkasse traditionell eine gut verdienende Klientel, erhält also höhere Beiträge pro Mitglied. Darüber hinaus ist diese Klientel auch weniger krank. Das Risiko musste daher unter den gesetzlichen und den Ersatzkassen ausgeglichen werden. Es gibt also – wie beim Länderfinanzausgleich – Nehmer- und Geberkassen. Geber-Kassen wie die Techniker Krankenasse haben früher Betiräge zurück erstattet – Sie erinnern sich. Dieses Geld geht jetzt in den Gesundheitsfonds und fließt im Rahmen des Risikostrukturausgleichs den Nehmer-Kassen zu.

Die Berechnungsgrundlage für den Ausgleich sind die Abrechnungs-Codes der Ärzte (DRG’s). Damit werden die Diagnosen kodifiziert, um die Abrechnung zu erleichtern und transparenter und überprüfbarer zu machen. Die DRG’s kodifizieren neben der Diagnose gleichzeitig auch den Behandlungsumfang und die Vergütung für den Arzt. Für die Kassen heißt das: Je teurer die Behandlung, desto höher der Risikostrukturausgleich zu Gunsten der betroffenen Krankenkasse.

Das weckte offenbar Begehrlichkeiten: Die Nehmer-Kassen waren plötzlich daran interessiert, dass die Ärzte schwerere Erkrankungen diagnostizieren. Teurer wird die Behandlung für die Kassen dadurch nicht, denn jede Kasse zahlt pro Quartal lediglich ein Fixum an die KV’en (Kassenärztlichen Vereinigungen) zur Verteilung an die Kassenärzte. Dieses Fixum wird auf Basis der Grundlohnsumme berechnet. Es bleibt daher trotz einer teureren Behandlung einzelner Patienten für die Kassen gleich.

Der Arzt wiederum bekommt seine Vergütung aus dem Fixum von der KV zugewiesen, je nachdem, wie viele Scheine er einreicht.

Einige Kassen haben jetzt offensichtlich Verträge mit niedergelassenen Ärzten abgeschlossen, in denen die Ärzte eine Extravergütung dafür erhalten sollen, dass sie ein schwereres Krankheitsbild diagnostizieren. Die Krankenkassen können dadurch einen höheren Anteil am Risikostrukturausgleich erhalten, ohne für teurere Patienten mehr einzahlen zu müssen.

Eine Win-Win-Situation – nur leider illegal! Deshalb ermittelt die Staatsanwaltschaft Hamburg jetzt gegen die AOK Rheinland/Hamburg. Eine erste Durchsuchung fand bereits statt. (siehe gesonderter Bericht!)

Für die Ärzte bedeutet dies möglicherweise eine Beihilfe zum Betrug! Ärzte die einen solchen Vertrag mit der AOK Rheinland/Hamburg abgeschlossen haben, sollten sich deshalb unbedingt jetzt beraten lassen: Evtl. kommt noch ein Rücktritt vom Versuch in Betracht.

Das Bundsversicherungsamt als Aufsichtsbehörde über die Krankenkassen hat die KV’en, also die Vertragspartner der Krankenkassen (!) jedenfalls bereits im Juni 2017 angeschrieben und vor dieser illegalen Praxis gewarnt.

Hier ist der Bericht:

Deutsches Ärzteblatt, Dienstag, 13. Juni 2017

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/76308/BVA-mahnt-Aerzte-Extraverguetung-fuer-Codierleistung-sind-verboten

Bonn – Krankenkassen dürfen Ärzte nicht zusätzlich zur normalen Vergütung finan­zielle Anreize bieten. Dies läuft dem Willen des Gesetzgebers zuwider. Das hat das Bundesversicherungsamt (BVA) als Aufsicht der bundesunmittelba-ren Krankenkassen und verantwortliche Oberbehörde des Risiko­struk­tur­aus­gleichs (RSA) in einem Brief an alle Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und die Kassenärztliche Bundesvereini­gung (KBV) unmissverständlich klargestellt.

Hintergrund ist ein anhaltender Streit um den RSA. Zuletzt standen die Krankenkassen in der Kritik, unter anderem über Betreuungsstrukturverträge mit den KVen, Ärzte dazu zu bewegen, so zu codieren, dass die Krankenkassen möglichst viel Geld aus dem RSA erhalten. Der Gesetzgeber hatte daraufhin im Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) Regelungen geschaffen, die Manipulationsmöglichkeiten im RSA zu reduzieren.

BVA-Chef Frank Plate scheint aber nicht überzeugt, dass Krankenkassen und KVen die Gesetzesänderung gebührend zur Kenntnis genommen haben. Anfang Mai richtete er sich an die Kassen-Chefs mit einem Appell. „Jede Krankenkasse ist mitverantwortlich für das Erscheinungsbild der GKV und für das Vertrauen der Versicherten in das Versor­gungssystem. Ich erwarte von den Krankenkassen, dass sie sich dieser besonderen Verantwortung bewusst sind und der rechtskonformen Erhebung und Meldung der für den Risiko­struk­tur­aus­gleich (RSA) maßgeblichen Daten die größtmögliche Bedeutung beimessen“, mahnte er in einem Brief an die Kassen.

Ärztliches Handeln am Wohl der Patienten ausrichten

Nun hat sich Plate auch an die Vertragspartner der Krankenkassen – die KVen – gewendet. In dem Brief weist er mit Nachdruck auf die aktuelle Gesetzeslage hin. Der Gesetzgeber stelle in seiner Begründung zum HHVG klar, dass ein „vertragsärztliches Fehlverhalten“ gegeben sei, wenn Vertragsärzte allein für die Vergabe und Dokumen­tation von Diagnosen eine zusätzliche Vergütung (ergänzend zur regulären Vergü­tung) oder sonstige wirtschaftliche Vorteile sich versprechen oder sich gewähren lassen oder selbst versprechen oder gewähren, schreibt Plate. Das ärztliche Handeln sei am Wohl der Patienten auszurichten. Insbesondere dürften Ärzte keine eigenen wirtschaftlichen Interessen oder das Interesse Dritter über dieses Wohl stellen. Zusätzliche Vergütungen für Diagnosen seien „ausgeschlossen und laufen dem Willen des Gesetzgebers zuwider“.

54 Verträge der Krankenkassen auffällig

Dem BVA zufolge hat die Behörde bereits flä­chendeckend entsprechende Verein­barungen geprüft. Verträge, die Vergütungen allein für die Vergabe von Diagnose­schlüsseln vorsehen und diesen eine konkrete ärztliche Leistung nicht gegenübersteht, seien „aufgegriffen worden“, heißt es. BVA-Sprecher Tobias Schmidt erklärte auf Anfrage des Deutschen Ärzteblattes, die betroffenen Krankenkassen seien in einem ersten Schritt aufgefordert worden, rechtswidrige Passagen in den Verträgen anzupassen oder die Verträge zu kündigen. 54 Verträge der Krankenkassen waren laut BVA auffällig.

Ein Großteil der Krankenkassen habe bereits eine zeitnahe Vertragsanpassung oder -umgestaltung zugesichert, erklärte Schmidt. Allerdings seien dem BVA bis dato noch keine angepassten Betreuungsstrukturverträge zur Prüfung vorgelegt worden. „In einigen Fällen haben Krankenkassen die Kündigung der Verträge zugesagt“, sagte der Sprecher der Behörde. Sofern die Krankenkassen eine rechtskonforme Vertrags­anpassung nicht leisten könnten oder wollten, will das BVA gegebenenfalls mit formellen Aufsichtsmittel eine zeitnahe Kündigung der Verträge bei den Kranken­kassen einfordern, erklärte er weiter.

Kassen dürfen Ärzte nur in gesetzlich geregelten Fällen beraten

Solche deutlichen Worte finden sich nicht in dem Brief des BVA an die KVen. Eine unterschwellige Mahnung, ist aber auch darin nicht zu überhören. „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass Krankenkassen nur in den gesetzlich geregelten Fällen Vertragsärzte beraten dürfen“, wendet sich Plate direkt an die KV-Vorstände. Es gehört nicht zu den gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben der Krankenkassen, Vertragsärzte im Hinblick auf Vergabe und Doku­mentation der Diagnosen zu beraten. Unzulässig sei auch eine beratende Beeinflussung des Kodierverhaltens über den Einsatz von Praxissoftware.

Plate räumte zwar ein, Kassen dürften in erforderlichen Fällen über Fragen der Wirtschaftlichkeit beraten. „Diese Beratung darf sich jedoch nicht auf den Einzelfall der Vergabe von Diagnosen beziehen. In sol­chen Fällen sieht der Gesetzgeber die Gefahr einer Beeinflussung der Kodierung und damit des RSA“, erläuterte der BVA-Chef. Er ergänzte, dass auch für die Abrechnung der ambulanten ärztlichen Leistungen eine erneute Übermittlung von Diagnosedaten in korrigierter oder ergänzter Form lediglich in berechtigten Ausnahmefällen bei technischen Übermittlungs- oder formalen Datenfehlern zulässig ist.

Wie das BVA auf Anfrage mitteilte, ist der Deutsche Hausärzteverband bisher nicht wegen möglicher Zusatzvergütungen für Codierungen in Verträgen angeschrieben worden. Dies sei seines Wissens nach auch nicht geplant, sagte BVA-Sprecher Schmidt.

Mit den Landesaufsichtsbehörden, die für die AOKen zuständig sind, hat das BVA heute ein Gespräch geführt. Ziel sei es, die bisherigen Erfahrungen auszutauschen und weiterhin ein bundesweit einheitliches Vorgehen der Aufsichtsbehörden zu beschließen, kündigte die Behörde an. Über Ergebnisse der Arbeitsgruppensitzung konnte das BVA nach Angaben eines Sprechers heute keine Auskunft geben.

© may/aerzteblatt.de

TÜV Rheinland haftet nicht für minderwertige Brustimplantate!

Der TÜV Rheinland muss für die Zertifizierung minderwertiger Brustimplantate der Firma PIP in Frankreich nun auch in Deutschland nicht einstehen. Nachdem zuvor bereits etliche Klagen gegen Kliniken, die die Implantate verwendet hatten, abgewiesen worden waren – u.a. mit dem Hinweis auf das TÜV-Zertifikat – hat der 7. Zivilsenat des BGH hat in seinem Urteil vom 22.06.2017 – VII – ZR 36/17 – eine Haftung des TÜV Rheinland abgelehnt und die Klage einer betroffenen Patientin abgewiesen.

Die französische Firma Poly Implan Prothèse (PIP) hatte Brustimplantate mit billigem und minderwertigem Industriesilikon gefüllt, das später aus der – porösen – Hülle austrat und tröpfchenweise das umliegende Gewebe infiltrierte, mit furchtbar schmerzhaften Entzündungen und Vernarbungen des Haut- und Unterhautgewebes. Die Patientinnen erlitten irreversible Schäden, weil das ausgetretene Silikon nicht entfernt werden kann. Da die französische Herstellerfirma in Insolvenz gegangen ist, wollten die Geschädigten den TÜV Rheinland als sog. „benannte Stelle“ dafür haftbar machen. Dies hat der BGH nun ebenfalls abgelehnt.

Der TÜV Rheinland hatte zwar die Zertifizierung des Herstellungsprozesses übernommen, aber gerade nicht die Materialprüfung (!) des verwendeten Silikons.

Zwar hätte der TÜV Rheinland die Verwendung des untauglichen Silikons im Herstellungsprozess möglicherweise entdecken können, insbesondere dann, wenn er unangekündigte Prüfungen durchgeführt hätte, dazu war er aber nicht verpflichtet, so der BGH. Die Klägerin hatte sich zwar darauf berufen, dass es bereits im Jahr 2001 Warnhinweise der US-amerikanischen Food & Drugs Behörde (FDA) wegen dieses Präparats gegeben habe, allerdings hatte der TÜV Rheinland sich damit verteidigt, dass er erst im Jahr 2011 (!), und somit erst nach der OP der Klägerin, davon Kenntnis erlangt habe. Dieser Vortrag blieb unwidersprochen (!) und galt somit gemäß § 138 III ZPO als zugestanden.

Im Ergebnis stellt der BGH sich damit an die Seite der französischen Cour d’Appel von Aix-en-Provence, die eine Haftung des TÜV Rheinland gegenüber französischen Patientinnen aus demselben Grund ebenfalls abgelehnt hatte, jedenfalls in 2. Instanz. in der 1. Instanz hatte die chambre de commerce von Toulon den TÜV Rheinland zuvor in 2 Verfahren zu je 3.000 bzs. 3.400,- pro Patientin verurteilt, was sich auf ca. Mio.€ 5,8 belaufen würde. Beide Urteile waren für vorläufig vollstreckbar erklärt worden.

http://www.francetvinfo.fr/sante/affaires/protheses-pip/protheses-mammaires-pip-la-cour-d-appel-estime-que-le-certificateur-tuv-n-a-pas-commis-de-faute_979719.html

Die Cour d’Appel hat die Urteile zwar wieder aufgehoben, allerdings ist hierüber offenbar derzeit noch ein Rechtsmittel zur Cour de Cassation in Paris anhängig. Darin wird es u.a. um den Inhalt und den Umfang der Prüfungspflicht des TÜV Rheinalnd gehen.

Der Gründer des Unternehmens, Jean-Claud MAS und sein Finanzvorstand Claude COUTY waren im Mai 2006 zu 3 bzw. 4 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, und zwar nicht zuletzt auch wegen Betrugs und vorsätzlicher Täuschung des TÜV Rheinland!

http://www.france24.com/fr/20160502-france-justice-pip-protheses-mammaires-implants-jean-claude-mas-condamne-appel-quatre-ans

Seit Jahren wird in Deutschland ein Gesetz gefordert, das die Verwendung von Medizinprodukten – insbesondere den Implantaten – unter strenge Zulassungsprüfungen und unter strengere Aufsicht stellt. Leider bisher ohne Erfolg. Das Nachsehen haben die Patienten, die auf dem Schaden alleine sitzen bleiben, wie der o.g. Fall wieder einmal deutlich zeigt. Das ist von der Politik aber offenbar ja auch genau so gewollt.

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