fehlerhafte Brustimplantate (PIP): TÜV Rheinland in Frankreich zu € 60 Mio. Schadensersatz verurteilt

  1. Februar 2021 – TÜV Rheinland haftet nun doch für fehlerhafte Brustimplantate (PIP) in Frankreich

10 Jahre nach dem Skandal um minderwertige Brustimplantate des inzwischen insolvent gegangenen französischen Herstellers PIP hat ein Berufungsgericht in Aix-en-Provence den TÜV Rheinland nun zur Zahlung von Entschädigungen in Höhe von € 60 Mio. verurteilt.

Das französische Handelsgericht (Cour de commerce) in Toulon hatte den TÜV Rheinland bereits im Jahre 2017 zur Zahlung von Schadensersatz in ebendieser Höhe an rund 20.000 Klägerinnen verurteilt; der TÜV Rheinland musste diese Summe auch vorläufig zahlen. Dieses Urteil wurde nunmehr vom Berufungsgericht in Aix-en-Provence bestätigt. Der TÜV Rheinland habe bei der Zertifizierung der Produktion des Herstellers Poly Implant Prothèse (PIP) seine Pflichten ver­letzt, so das Gericht. Das Berufungsgericht erklärte allerdings 6.205 Klagen für unzulässig, da anhand der eingereichten Unterlagen nicht sicher dargelegt werden konnte, dass den Klägerinnen das vom TÜV „zertifizierte“ Modell eingesetzt worden war. Weiteren 13.456 Klägerinnen sprach das Gericht jedoch Schadenersatz zu.

Die Fa. PIP hatte in Täuschungsabsicht geringere Mengen medizinischen Silikons eingekauft und die Rechnungen dem TÜV Rheinland präsentiert, tatsächlich aber in der weit überwiegenden Zahl der Implantate billigeres Industriesilikon verwendet. Der TÜV Rheinland hatte sich so verteidigt, dass er selbst Opfer einer Täuschung durch das Unternehmen geworden sei. Die Anwälte des TÜV waren auch der Meinung, dass die Qualität des eingesetzten Silikons selber nicht vom Prüfauftrag umfasst gewesen sei und dass man zu unangekündigten Kontrollen nicht verpflichtet gewesen sei. Das ließen die Richter*innen aber nicht gelten:

Der TÜV Rheinland sei auch nach der damals bereits geltenden Europäischen Verordnung über Medizinprodukte verpflichtet gewesen, die Herkunft des verwendeten Materials zu überprü­fen. Dazu hätten die Lagerbücher des Herstellers PIP untersucht werden müssen. Eine solche Kontrolle hätte es dem TÜV und seinem französischen Unterauftragnehmer ermöglicht, die Diskrepanz zwischen der Menge des vom einzigen zugelassenen Lieferanten bezogenen Gels und der Anzahl der hergestellten Brustprothesen festzustellen, so das Gericht. Dieser Ermittlungsauftrag hätte unange­kündigte Kontrollen zur Folge haben müssen.

Die Fa. PIP hatte weltweit rund eine Million Brustimplantate verkauft, die mit billigem Industriesilikon gefüllt waren. Diese wurden im Laufe der Zeit rissig, und das Industriesilikon trat in das umliegende Gewebe aus, zum Teil mit verheerenden Auswirkungen. Auch in Deutschland waren tausende Patientinnen betroffen. Die Klage einer deutschen Patientin gegen die Haftpflichtversicherung der Herstellerfirma wurde z.B. abgewiesen, weil die Versicherung die Deckung auf Schadensfälle in Frankreich begrenzt hatte (sog. „Territorialklausel“). Der EuGH hatte diese Versicherungspraxis europarechtlich nicht beanstandet (Rechtssache C-581/18). Ein Prozess der AOK gegen den TÜV Rheinland läuft derzeit noch vor dem OLG Nürnberg. Nach deutschem Recht ist es unsicher, ob es eine unmittelbare Durchgriffshaftung Geschädigter gegen den TÜV als Zertifizierungsstelle geben kann. Bisher wurde dies stets abgelehnt (s. dazu unten).

In Frankreich sind noch etliche Prozesse anhängig, das aktuelle in Aix-en-Provence ist allerdings das Größte. Dem Urteil wird denn auch in Frankreich eine bahnbrechende Wirkung zugesprochen.

Im Jahr 2013 hatte das Handelsgericht von Toulon den TÜV Rheinland bereits wegen Ver­nachlässigung seiner Kontroll- und Aufsichtspflichten verurteilt, an sechs Vertreiber der PIP-Implan­tate 5,8 Millionen Euro Schadensersatz zu zahlen. Zwei Jahre später wurde der TÜV im Berufungsverfahren jedoch wieder von jeglicher Haftung freigesprochen. Das fran­zösische Kassationsgericht (Cour de Cassation) hob dieses Urteil im Jahr 2018 aber wieder auf und verwies den Fall an das Pariser Berufungsgericht, das den Fall nunmehr zu beurteilen und dabei die Erwägungen der Cour de Cassation zu berücksichtigen hat.

In einem weiteren Verfahren mit rund 2.000 Klägerinnen wird eine Entscheidung im Mai erwartet. Auch in Toulon läuft noch ein weiteres Verfahren, in dem im Sommer ein Urteil fallen soll.

Quelle: afp/aerzteblatt.de

Auch deutsche Gerichte hatten sich mit Schadensersatzfragen zu befassen, z.B. das LG und das OLG Nürnberg. In diesem Fall klagt die AOK als Kostenträgerin für Folge-Operationen einiger bei ihr versicherter Patientinnen, die sich die Implantate wieder hatten entfernen lassen müssen. (Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für Brustimplantate bei Brustkrebspatientinnen, Anm. d. Autorin). Nach Auffassung des LG und des OLG Nürnberg gibt es für eine Durchgriffshaftung Geschädigter gegenüber der Prüfstelle im deutschen Recht aber keine Anspruchsgrundlage. Zum einen entfalte der Prüfauftrag selbst keinerlei Drittwirkung, und zum anderen habe der TÜV Rheinland keine Körperverletzung begangen, so die Richter. Sowohl eine vertragliche als auch eine deliktische Haftung lehnten die Richter demnach in beiden Instanzen ab. Der BGH ist etwas anderer Auffassung. Zwar bestätigte er in seinem Urteil vom 27.02.2020 (Az. VII ZR 151/18) die Auffassung des OLG Nürnberg, wonach der Prüfauftrag zwischen dem TÜV Rheinland und der Fa. PIP keine Schutzwirkung für die Patientinnen entfalte, und somit als Anspruchsgrundlage nicht in Betracht komme. Der Zweck des Vertrages sei nicht auf den Schutz der Patientinnen ausgelegt, sondern diene der Eröffnung des Marktzugangs, so der BGH. Das ist richtig, denn ohne die EU-Konformitätszertifizierung gibt es kein CE-Siegel, und ohne ein CE-Siegel ist die Vermarktung schwieriger, wenngleich nicht unmöglich. Die CE-Kennzeichnung trifft aber gerade keine Aussage über Qualität und Unbedenklichkeit von Medizinprodukten und kann daher auch keine Schutzwirkung entfalten, so der BGH. Dennoch hat der BGH ausgeführt, dass die Vorschriften zum EU-Konformitätsprüfungsverfahren, das zur Erteilung des CE-Kennzeichnung führt,  gleichwohl als Schutznorm im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB in Betracht kommen, weil die Verwender, also die Ärzte und die Patientinnen, dieser CE-Kennzeichnung faktisch eben doch ein erhöhtes Vertrauen auch und gerade was die Qualität und Unbedenklichkeit des Produkts angeht, entgegen bringen. Da demnach eine deliktische Haftung durchaus in Betracht komme, hat der BGH den Prozess an das OLG Nürnberg zurück verwiesen, das diesen Widerspruch nun auflösen muss. In Frankreich wurde die Frage der drittschützenden Wirkung offenbar im Sinne der Patientinnen gelöst.

Der Skandal um die fehlerhaften Brustimplantate hatte wieder einmal aufgedeckt, dass Medizinprodukte keinerlei Qualitäts- und Unbedenklichkeitskontrolle durchlaufen müssen, und zwar weder in Deutschland noch in ganz Europa. Im Grunde genommen kann daher in Europa jeder Heimwerker x-beliebige Implantate in seiner Garage herstellen und an Kliniken verkaufen, die diese dann ebenso unkontrolliert einsetzen könnten. Weder Hüftprothesen noch Herzkatheter noch – wie der Fall PIP zeigt – Brustimplantate werden in Deutschland auf Bruchsicherheit und Gewebeverträglichkeit hin überprüft. Das hatte bereits bei Hüft- und Kniegelenksendoprothesen zu erheblichen Gesundheitschäden bei den ohnehin gehandicapten Patient*innen geführt. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Der Gesetzgeber hat sich immerhin zu der Errichtung eines Implantateregisters hinreißen lassen, wodurch Patienten schneller über Produktfehler unterrichtet werden können sollen, weil diese meldepflichtig gemacht werden:

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/implantateregister-errichtungsgesetz.html

Eine Prävention im Sinne eines Zulassungsverfahrens ähnlich dem für Medikamente ist jedoch nach wie vor nicht vorgesehen. Dafür wäre auch die EU zuständig, und da sei die Industrie vor!

Nach 8 Jahren Prozessdauer: € 550.000,- Schmerzensgeld + vollen materiellen Schaden für groben Behandlungsfehler bei Frühgeburt

Das Ortenau-Klinikum in Offenburg muss € 550.000,- Schmerzensgeld an ein heute 8-jähriges Mädchen zahlen. Das LG Offenburg hat es aufgrund eines Sachverständigengutachtens als erwiesen erachtet, dass dem diensthabenden Arzt ein sog. „grober Behandlungsfehler“ im Rahmen einer Frühgeburt unterlaufen war. Bei dieser Frühgeburt war es zu Hirnblutungen bei dem Neugeborenen gekommen. Das heute 8-jährige Mädchen hat schwere, irreversible Hirnschädigungen erlitten: es ist gelähmt, blind und leidet unter Epilepsien. Da die Beweislast für die Kausalität des Fehlers für die Blutungen beim groben Behandlungsfehler auf den behandelnden Arzt abgewälzt wird, musste dieser sich entlasten und beweisen, dass die Blutungen auch bei ärztlich korrektem Verhalten aufgetreten wären. Dieser Beweis ist in der Regel unmöglich und war dem beklagten Arzt und der Klinik auch hier erwartungsgemäß nicht gelungen.

Das Gericht hatte den Beteiligten einen Vergleich in Höhe von € 615.000,- vorgeschlagen, in dem auch der materielle Schaden in Höhe von € 65.000,- mit abgegolten werden sollte; die Haftpflichtversicherung der Klinik hatte jedoch abgelehnt.

LG Offenbach, Urteil v. 01.09.2017, 3 O 386/14

Schmerzensgeld für Hinterbliebene in Kraft

Es ist geschafft: Am 22.7.2017 ist das Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld (BGBl. I 2017, Nr. 48, Seite 2421 ff.) in Kraft getreten. Bei Unfällen mit Todesfolge, aber auch bei anderen Ereignissen, wie z.B. bei ärztlichen Behandlungsfehlern mit Todesfolge können die Hinterbliebenen eines getöteten Angehörigen jetzt unmittelbar vom Verursacher des Unfalls wegen ihres Schocks und ihrer Trauer ein angemessenes Schmerzensgeld verlangen, wenn der Schädiger rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hatte. Das ist nun in § 844 Abs. 3 n.F. BGB Gesetz geworden:

„(3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.“

Das gab es in Deutschland noch nie: Während alle umliegenden EU-Mitgliedsstaaten schon lange ein pauschales Schock- bzw.Trauer- Schmerzensgeld gewährt haben (Intalien z.B. generell € 50.000,-), gab es in Deutschland Schmerzensgeld für nur mittelbar betroffene Personen (also Angehörige u.a.) nur, wenn diese physisch objektivierbare Auswirkungen der Trauer erlitten hatten, also etwa Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Depressionen. Diese Beschwerden mussten dargelegt und – bei Bestreiten durch den Versicherer des Unfallverursachers – auch bewiesen werden. Beweisen werden musste auch der Umstand, dass diese Symptome durch den Tod des Angehörigen verursacht wurden und nicht etwa anderweitig. Und nur wenn diseer Nachweis gelungen war, gab es ein bißchen was (Deutschland: „Indianer kennt keinen Schmerz“).

Meine persönliche Enschätzung

Das ist gut:

Seit dem 22.7.2017 brauchen die Hinterbliebenen diesen Nachweis physischer Beschwerden nicht mehr zu erbringen.

Das ist nicht gut:

Allerdings hat der Gesetzgeber erneut darauf verzichtet, eine angemessene Mindesthöhe vorzugeben. Das ist schade, denn die Höhe ist immer Geschmackssache des jeweils zuständigen Gerichts. Es ist also vorprogrammiert, dass es von Gericht zu Gericht in den ersten Jahren erhebliche Unterschiede geben wird. Dabei ist Trauer um einen nahen Angehörigen doch für alle Bundesbürger gleich schmerzlich, oder?

Das befürchte ich:

Jetzt geht das Geschachere mit den Rechtsschutzversicherungen wieder los, die ihre Deckungszusage – wie immer – nur für eine bestimmte, von ihnen selbst bewilligte Höhe des Schmerzensgeldes geben werden. Da die Gerichts- und Anwaltsgebühren von der Höhe des Schmerzensgeldes abhängen, waren die Rechtsschutzversicherungen (bis auf eine Ausnahme) immer sehr geizig. Und die Richter sagen: „Wenn Sie nicht mehr verlangen, kann ich Ihnen auch nicht mehr bewilligen“.

Wie ist Ihre Meinung dazu?

Schmerzensgeld für Hinterbliebene (2)

Der Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015 hat endgültig den Stein ins Rollen gebracht:

Am Mittwoch, den 30.11.2016, hat Justiziminister Maas (SPD) der Bundesregierung nach langen und intensiven Diskussionen jetzt endlich einen Gesetzentwurf vorgeschlagen. Der geht jetzt durch die anderen Ministerien und wir haben begründete Hoffnung, dass noch in dieser Legislaturperiode ein entsprechendes Gesetz verabschiedet wird.

Der Entwurf ist noch nicht öffentlich, allerdings hat am 1.12.2016 über dieses Thema bereits eine Bundestagsdebatte stattgefunden.

http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18206.pdf (ab S. 20599 ff.)